Ich habe beschlossen, dass es zu diesem Zeitpunkt – zwei Wochen vor meiner Elternzeit – aussichtslos ist, in Ruhe einen „ordentlichen“ Rückblick auf meine bisherige Zeit bei der Lokalen Agenda zu schreiben. Hier also eine lose Gedankensammlung zu meinem Abschied auf Zeit.
„Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ – Nigerianisches Sprichwort
An dieses Sprichwort musste ich in den letzten Wochen und Monaten sehr häufig denken, als ich mich in die für mich absolut neue Gedanken- und Gefühlswelt des Bald-Mama-Seins eingewühlt habe. So vieles ist neu zu erfassen, zu verstehen, abzuwägen, zu entscheiden, loszulassen, zu klären, zu vertrauen, zu hoffen. Zum Glück habe ich eine tolle WG, liebe Partner und Freunde, Eltern bzw. Großeltern in meiner Nähe, so dass es sich trotz aller Widrigkeiten anfühlt, ein kleines Dorf um mich zu haben. Mein Mitgefühl geht an die Frauen und Partner, die diesen Dschungel an neuen Informationen, Fragen und Bedürfnissen allein durchqueren und meistern müssen. Was haben wir uns bloß dabei gedacht, als das Kernfamilienmodell modern wurde? Gerade jetzt durch den Lockdown merken viele, dass dieses Modell ohne externe Betreuung auf Dauer kaum leistbar ist.
Faktisch habe ich den ganzen bewussten Teil meiner Schwangerschaft im Lockdown verbracht, bis jetzt gefühlt dazu noch im Dauer-Winter. Einerseits war es frustrierend für mich, dass Angebote wie Sauna oder Schwimmhalle gar nicht und Schwangerschaftsyoga und Geburtsvorbereitungskurse nur online stattfinden. Der vielleicht wichtige Austausch mit anderen werdenden Eltern ist dadurch ebenfalls komplett weggefallen. Auf der anderen Seite war es so aber auch um einiges ruhiger in meiner Schwangerschaft, als wenn wir bei der Lokalen Agenda Normalbetrieb gehabt hätten und ich von einem spannenden Ort in Dresden, Sachsen und dem Bund zum nächsten gereist wäre. So haben sich praktisch alle Termine online abgespielt.
Wehmütig macht mich, dass ich fast alle Menschen, mit denen ich in den letzten 4,5 Jahren zusammengearbeitet habe, nur am Bildschirm verabschieden konnte. Dabei haben wir in den letzten 4,5 Jahren so viel zusammen auf die Beine gestellt, erlebt, diskutiert und gefeiert. Dafür kann ich allen, die dabei waren, nur danken.
Das Bild, das ich von meiner Arbeit hatte, als ich die Geschäftsführung der Lokalen Agenda 2016 übernahm war, Teil einer Bewegung, Teil einer Kette von Menschen zu sein, die zusammen in eine ähnliche Richtung, aber auch in eine ungewisse Zukunft voran gehen – und zwar Hand in Hand, denn wir sitzen alle im selben Boot. Und wir sind alle – individuell und kollektiv – Teil dieses Prozesses, dieser Bewusstwerdung, dass wir nicht Herrscher über diesen Planeten sind, sondern kooperativ mit unserer Mitwelt zusammenleben. Wir sind und waren nie allein. Für mich ist die Frage, die mich antreibt nach Charles Eisenstein:
„Maybe we should stop asking „How will we survive“ and instead ask „What world do we want to live in?“ – Charles Eisenstein
Intern ist die Lokale Agenda Dresden seit 2016 von zwei Teilzeitangestellten auf inzwischen sechs engagierte Beschäftigte in Teilzeit und Minijob sowie einige freie Mitarbeiter*innen angewachsen. Wir hatten tolle Bundesfreiwilligendienstleistende und Praktikant*innen, die durch ihre Arbeit bei uns in die Themen und die Netzwerke der Nachhaltigkeit in Dresden und der Region hineinwachsen konnten. Wir haben mit unseren Vorständen und Mitgliedern gemeinsam die Stellung, Aufgabe und Nische der Agenda reflektiert und neu ausgerichtet. Innen und Außen ist viel in Bewegung gekommen.
Ich habe so viele neue und verschiedene Orte in meiner Heimatstadt kennengelernt, wie ich es mir vorher nicht vorstellen konnte. Dasselbe gilt für die unzähligen neuen und interessanten Menschen, mir bis dahin unbekannte Vereine, Unternehmen, Perspektiven und Erfahrungen, die ich durch meine Arbeit bisher kennen lernen konnte. Aber auch Strukturen, die ich selbst mit aufbauen konnte, wie den Ernährungsrat Dresden und Region, den Landesverband Nachhaltiges Sachsen und das Zukunftsstadtprojekt Essbarer Stadtteil Plauen. Strukturen, in denen Menschen sinnvolle Arbeit finden konnten und sich mit vollem Einsatz ihrer Zeit und Fähigkeiten auf die Umwandlung unserer Städte und Regionen konzentrieren können.
In der Öffentlichkeit haben wir in den letzten Jahren der Agenda ein neues Gesicht verpasst, mit einer neuen Webseite die Bündelung und Reichweite von nachhaltigen Aktivitäten in der Stadt erhöht, Geschichten des Wandels erzählt und auf unseren Social-Media-Kanälen Blicke hinter die Kulissen geworfen.
Highlights für mich waren dabei immer, wenn ich Menschen über die kognitive Ebene hinaus erreichen konnte, neue Verbindungen zwischen Menschen und Organisationen entstanden sind und Menschen inspiriert wurden, ihr Denken, Fühlen und Handeln zu verändern. Wenn daraus an anderen Ecken der Stadt Initiativen, Bewegungen, neue Ideen entstehen. Und wenn ich sehe, wie vielen Menschen eine lebenswerte Zukunft ein Herzensanliegen ist.
Die größten Adrenalinschübe hatte ich in den letzten Jahren bei meinen Auftritten vor vielen Menschen wie beim alljährlichen UN Tag, bei meinen ersten Demo-Reden bei Fridays for Future, aber auch im ganz kleinen Kreis bei Treffen mit Menschen, bei denen sich alle an den Rand ihrer Komfortzonen bewegen. Denn dort entsteht Wachstum und Demut vor der Vielfalt der Ansätze, Sichtweisen und Meinungen. Hinter den Klischees sind immer Menschen. Mit manchen kann man gut, mit anderen nicht. Alle sind wichtig.
Wir leben in einer Kultur, in der Viele vieles abgesichert und garantiert haben wollen, planbar und geradlinig. Mein Eindruck ist bisher, beim Kinderkriegen ist das aussichtslos. Und bei dem Prozess hin zu einer lebenswerten Zukunft ebenso. Genau das macht für mich zumindest auch den Reiz aus: Das Unbekannte einzuladen, neue Möglichkeiten und Menschen willkommen zu heißen, sich auf das Unplanbare einzustellen. Offen zu werden und zu bleiben. Seinen Beitrag zu leisten und andere Menschen dabei an seiner Seite zu wissen. Abzuwägen, was schaffbar und sinnvoll ist. Und Freude dabei zu haben.
Für mich ist Dresden in den letzten Jahren immer mehr zu dem Dorf geworden, das es eigentlich schon immer war. Denn an so vielen Ecken treffe ich bekannte Gesichter und fühle mich als Teil einer Bewegung, die ich weder überblicken noch kontrollieren kann. Sondern vielmehr erstaunt beobachten darf, was sich ständig verändert und entfaltet. Vielleicht war das eine gute Vorbereitung auf das kommende Mama-Sein. Und wenn man für die Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf braucht, dann bin ich für mich und mein Kind guter Hoffnung, dass es ein cooles Dorf ist, das wir hier gemeinsam aufbauen.