Am 3. Juni war unsere Projektkoordinatorin Christine Mantu in Berlin bei dem Gipfel der Zivilgesellschaft zur Agenda 2030 und anschließend am 4. Juni zusammen mit Julia Leuterer bei der 19. Jahreskonferenz des Rates für nachhaltige Entwicklung (RNE). Welchen Input und welche Impulse wir aus der Hauptstadt mitgebracht haben, hat Christine in einem Beitrag verfasst.
Nicht auf der Höhe – deutsche Nachhaltigkeitspolitik und die Agenda 2030
„Im Konsens ist die Welt noch nie verändert worden“
Jürgen Maier vom Forum für Umwelt und Entwicklung.
Dieses Statement blieb mir noch lange im Kopf, insbesondere wenn man selbst in einer uneinen Stadt wie Dresden wohnt, lebt und sich engagiert. Die Begrüßungsstatements von Jürgen Maier und Luise Steinwachs aus dem Forum Umwelt und Entwicklung machten zu Beginn gleich deutlich, dass politische Zielsetzungen hinter den zivilgesellschaftlichen Bemühungen zurückblieben. Die Nachhaltigen Entwicklungsziele bzw. SDG’s sind völkerrechtlich auf derselben Stufe wie die Menschenrechte, da sie von allen Ländern beschlossen worden sind. Und so müssten sie auch behandelt werden. Immerhin haben zahlreiche Kommunen die Nachhaltigkeitsziele im Stadtrat beschlossen – in Dresden steht dieser Beschluss noch aus. Dringlicher Nachholbedarf für die kommende Wahlperiode.
Eine zivilgesellschaftliche Erklärung zur deutschen Nachhaltigkeitspolitik war das Kernstück des Gipfels. Die Aussage: Es reicht noch nicht. Die Lokale Agenda für Dresden wird in der zweiten Runde nun mitzeichnen und damit inzwischen 180 Initiativen sowie den großen Umweltverbänden folgen.
Der zivilgesellschaftliche Gipfel
Die Konferenz wollte die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen vernetzen und stärken, aber vor allem mit Politik und Verwaltung ins Gespräch bringen. Darüber hinaus wurden Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen vorgestellt, die auch übertragbare Lösungsansätze lieferten. Ich selbst entschied mich für das Seminar „Nachhaltigkeit in der Praxis“ von Mitarbeiterinnen der AWO, da ich auf übertragbare Konzepte für unsere städtischen Unternehmen hoffte. Ein Pflegepatient hat einen CO2-Fußabdruck von 8 Tonnen pro Jahr. Mit dem Projekt „Klimafreundlich pflegen“ soll dieser Fußabdruck langfristig auf 1-2 Tonnen reduziert werden. Um solche Nachhaltigkeitskonzepte zu etablieren sind zwei Maßnahmenpakete hilfreich:
- 1. Sofortmaßnahmen identifizieren und umsetzen (z.B. Umstellung von Papier, Verpflegung und Strom) und
- 2. eine langfristige Strategieentwicklung
Dieses Seminar war für mich besonders interessant, weil es zeigte wie schnell klimafreundliche Lösungen etabliert werden können, auch wenn der Fokus der Arbeit eigentlich ein anderer ist.
Hausaufgaben für Dresden
Im Anschluss folgte eine Vernetzungsrunde beim Picknick. Vertreter:innen von Initiativen, Verbänden und Instituten aus deutschen Städten berichteten von großen Schritten, die jetzt kommunal passieren oder passiert sind. Mein Eindruck: Dresden hat noch viel Nachholbedarf und viele Hausaufgaben zu erledigen, wenn wir in Deutschland Schritt halten wollen. Die Transformation ist in vollem Gange und wenn wir nicht hinterherlaufen, sondern noch mitgestalten möchten, müssen wir insbesondere in der Stadtentwicklung, im Bereich Mobilität, Einbindung von Zivilgesellschaft und Nachhaltigkeit sowie Bürger:innenbeteiligung nachlegen. Insbesondere verblüffte mich der „common sense“ den die Nachhaltigkeitziele in den vertretenen Kommunen zu haben schienen.
Positive Narrative schaffen
Zum Worldcafé mit der Ressortleitungen der Bundesministerien war der Andrang an den Tischen groß. Ich entschied mich für das BMU und das BMVI. Der Referatsleiter für Nachhaltigkeit im Bundesumweltministerium Jörg Mayer-Ries plädierte vor allem dafür, endlich positive Narrative für Klimagerechtigkeit als Teil eines guten Lebens für uns alle zu schaffen. Über Jahre wurde ein Narrativ bedient, in dem Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit als Zielkonflikte dargestellt wurden, obwohl gerade Nachhaltigkeit der einzige Weg sei, um alle mitzunehmen und die Gesellschaft zusammenzubringen.
Leo Schulz als Referatsleiter der Nachhaltigkeitsabteilung des BMVI machte vor allem deutlich, was mit einem Verkehrsminister Scheuer nicht ginge und erklärte die 7 Milliarden Euro Subventionen für Diesel als Marktverzerrung. Vom Tisch gab es eindeutiges Feedback für die Arbeit des Verkehrsministeriums. Gregor Hagedorn, der mein Sitznachbar war, fand als Initiator von Scientists4future deutliche Worte gegenüber der für ihn „wissenschaftsverachtenden (Verkehrs-)Politik“.
Interessenskonflikte und Lobbyismus
Das Abschlusspodium war mit Vertreterinnen der Deutschen Umwelthilfe (DUH), Fridays For Future Deutschland, der BUNDjugend und Oxfam weiblich besetzt. Jörg Mayer-Ries als Vertreter des BMU zeigte sich auf Seiten der Verbände und verwies auf die geringe Budgetausstattung des BMUs, die die Wertschätzung innerhalb der Regierung ausdrücke. Auch verdeutlichte er, dass Deutschland nicht losgelöst auf dem Globus agieren könne.
Barbara Metz, von der Deutschen Umwelthilfe, berichtete von der Prüfung der Gemeinnützigkeit der DUH und dem Versuch, dem Verein das Klagerecht zu entziehen. So versuche die Bundesregierung, unbequeme Akteure ruhig zu stellen. Des Weiteren prangerte die beeindruckende Barbara Metz an, dass Nachhaltigkeitslobbyist:innen der gleichwertige Zugang zur politischen Interessensvertretung fehle. So habe sich Andreas Scheuer im letzten Jahr zwar 17 mal mit Vertreter:innen der Automobilindustrie getroffen, aber kein einziges Mal mit Vertreter:innen der 5 großen Umweltverbände.
Nach der Konferenz bleibt festzuhalten, dass Gräben zwischen Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Expert:innen auf der einen und Entscheider:innen auf der anderen Seite nun überwunden werden müssen, um der Klimakrise zu begegnen. Wir müssen nicht nur zusammen diskutieren, sondern zusammen Ergebnisse erarbeiten. Nur so wird, um die Kanzlerin zu zitieren, aus der „Pille-Palle“-Klimapolitik eine echte Bemühung, das 1,5 Grad-Ziel doch noch einzuhalten. Dafür ist Interessensvertretung bedeutsam, da Politiker:innen den Input für ihre Arbeit dringend brauchen. Allerdings wird das Ergebnis verzerrt, wenn die Durchschlagskraft und die Einbindung von Interessen von der Kapitalstärke der Lobby abhängen.
Die Jahreskonferenz des RNE
Nächster Tag, der 4. Juni und eine vollkommen andere Veranstaltung.
Weniger Austausch, dafür viel (frontaler) Input. Knackig moderiert von Günther Bachmann, Generalsekretär des RNE, gab es gleich zu Beginn 8 mal 5 Minuten Input im Magazin-Format. Nennenswert dabei der Wetterexperte Karsten Schwanke, der ausführte was bereits 1 Grad Erwärmung für unseren Planeten bedeutet und dass schon jetzt niemand mehr sicher sein könne, welche Bäume bei diesem veränderten Klima in Zukunft einen gesunden Wald bilden können. Ebenso blieb der Input von Dr. Marcus Berger im Gedächtnis. Er referierte über unseren Wasserfußabdruck (120l/Tag) und was dieser mit der Austrocknung des Aralsees und des Lake Naiwashas in Kenia zu tun hat.
3 Chicoreerüben für einen Nylonstrumpf
Allerdings ging es in den Inputs nicht nur darum das Problembewusstsein noch einmal schärfen und die Dringlichkeit des Handelns zu verdeutlichen, sondern auch darum das Spotlight auf bereits vorhandene erforschte Lösungsansätze zu lenken. Zum Beispiel berichtete Prof. Dr. Andrea Kruse von der Uni Hohenheim über ihre Forschung.
Unter anderem stellt sie aus dem landwirtschaftlichen Abfallprodukt „Chicoreerüben“ (dem Teil, der bei Chicoree nicht im Supermarkt landet) Nylonstrümpfe her. Dazu benötigt sie inzwischen gerade einmal 3 Rüben pro Strumpf. Eine nachhaltige Lösung für ein Alltagsprodukt.
Die GRÜNE Null bis 2035
Wie immer in gewohnt klarer und scharfer Sprache äußerte sich der Vertreter von Fridays for Future Deutschland: Jakob Blasel. Er forderte „Die GRÜNE Null“ bis 2035 oder das Eingeständnis der Regierung versagt zu haben und „die Klasse zu wiederholen“. Ebenso kritisierte er Greenpeace und den RNE mit den Klimazielen der Bundesregierung zu arbeiten. Diese seien nicht ausreichend, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen.
Nachhaltigkeit Verfassungsrang geben
Direkt im Anschluss begrüßte die RNE-Vorsitzende Marlehn Thieme die eingetroffene Bundeskanzlerin Angela Merkel und übergab ihr offiziell eine Empfehlung des RNE. Unter anderem beeinhaltet diese Empfehlung die Forderung das Nachhaltigkeitsprinzip im Grundgesetz zu kodifizieren.
Angela Merkel begrüßte die Forderungen von Fridays for Future und erklärte, was bereits getan wurde und dass dies noch nicht genug sei. Die Forderung, den Nachhaltigkeitszielen Verfassungsrang zu geben, müsse man ernsthaft diskutieren – das Schwerere sei die konsequente Umsetzung.
Vom „Müssen“ zum „Machen“
Es folgten Reden von Olaf Scholz, der konstatierte, dass 2019 das Jahr des Handelns und 2020 das Jahr der Nachhaltigkeit werde sowie ein beeindruckend ehrlicher Appell von Gerd Müller (Bundesentwicklungsminister) und Svenja Schulze (Bundesumweltministerin). Letztere beklagte, dass alle Ansprachen mit „Wir müssen“ und „Jetzt muss“ zu beginnen schienen. Von „Müssen“ müsse man zum „Machen“ kommen.
Wir nehmen viel frischen Input und viel Motivation aus Berlin mit. Das Beständigste ist die Tatsache, dass sich die Welt weiterdreht – dass sie sich permanent verändert. Die Zivilgesellschaft ist schneller und bereits viel weiter als die politischen Prozesse. Die Politik ist nun in der Pflicht Rahmen zu setzen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen und gestalten.